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Geisternetz

Ich wische, du wischst, wir matchen. Siebenundachtzig Prozent Übereinstimmung. Du hast kinnlange Haare, Bernsteinaugen und ein verschmitztes Lächeln. Manchmal rauchst du Marihuana. Bisher war mir das nicht bewusst – aber du triffst meinen Geschmack.

Wir schreiben. Ich mag keinen Smalltalk; zum Glück ist er schnell überwunden. Ich fasse Vertrauen, fühle mich verstanden – und bin angetan: von dir. Du bist Geologe. Ich weiß wenig über Gesteine, trotzdem hast du bei mir schnell einen Stein im Brett. Denn enge Freunde ausgenommen – wann habe ich das letzte Mal ein so gutes Gespräch geführt? Ich kann mich nicht erinnern. Ich will nichts überstürzen, doch zum ersten Mal vermisse ich jemanden, dem ich noch nie begegnet bin. Du wirst mein Lichtblick des Tages – viele Tage lang. Nachts weckst du ein vergessen geglaubtes Verlangen. Du spiegelst mir eine Welt voller Möglichkeiten, und ich hänge an deinen digitalen Lippen, als hättest du einen Cocktail verschwommener Wünsche ausgetrunken.

Wir wollen uns treffen, sobald du in der Stadt bist. Du wohnst woanders, oben im Norden. Gerade packst du Kartons – dein Großvater ist gestorben, und du willst zurück in die Heimat. Dorthin, wo ich wohne, sagst du.

Dann tauchst du ab.

Anstatt mein Fels in der Brandung zu werden, bleibst du stumm wie ein fossiler Fisch. Noch bist du sichtbar – aber niemals online. Und so lebe ich in einer Welt des Wartens. Irgendwann bist du ganz verschwunden. Und ich brauche nicht an Geister zu glauben, um geghostet zu werden.

Immer wieder scrolle ich durch unsere Chatverläufe, nur um sicherzugehen: Du bist wirklich weg. Ich starre auf die Screenshots deiner Bilder, um mich daran zu erinnern: Ich konnte mich wieder für jemanden öffnen. Dein Lächeln wirkt nicht mehr herzlich, sondern höhnisch.
Was habe ich falsch gemacht?
Ich weiß es nicht.
Wer bist du wirklich?

Alles ist denkbar. Du könntest siebzehn sein. Oder siebzig. Verunglückt. Verheiratet. Oder einfach verliebt. Wer weiß das schon. Von deinem Reichtum an Möglichkeiten bleibt mir das Narrentum einer geschmacklosen Realität. Habe ich mir alles nur eingebildet?

Asche auf mein Haupt.

***

Viele Tage später wird mein Overthinking leiser. Irgendwann ist nur noch ein heiseres Tuscheln zu vernehmen – bis meine Gedanken an dich bloß noch eine Erinnerung sind, gefangen in dieser Geschichte. Und trotzdem: Du hast den Stein ins Rollen gebracht.

Mir ist bewusst, wie banal das alles klingt. Ich ahnte es damals und ich weiß es heute. Damals tat es weh. Heute verzeihe ich mir meine Blauäugigkeit – immerhin bin ich mit einem blauen Auge davongekommen. In der Welt des Online-Datings ist das keine nennenswerte Erfahrung. Damals war diese Welt für mich neu.

Auf diese eine Begegnung folgten andere. Ich habe mich ein paar Mal mit Männern von der Dating-App OKCupid getroffen. Ein Date war ein harter Brocken. Ein anderes war angenehm – ist aber im Sande verlaufen. Doch das sind andere Geschichten, die zu anderen Zeiten geschrieben werden.

Bis dahin bewahre ich sie in meinen Erinnerungen – wie Skulpturen in einem Museum.

Denn wer weiß, was noch kommt?
In der Liebe ist schließlich nichts in Stein gemeißelt.


Titelbild: Daniel Ramos auf Unsplash.

Published inProsa
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